Gefährdungsbeurteilung: Notwendigkeit eines hydraulischen Abgleichs in Bestandsliegenschaften
Die Energieeffizienz bestehender Heizsysteme gewinnt im Rahmen der Energiewende und der zunehmenden Bedeutung der Betreiberverantwortung stetig an Relevanz. Eine zentrale Maßnahme zur Optimierung wassergeführter Heizsysteme stellt der sogenannte hydraulische Abgleich dar. In Neubauten seit Jahren Standard, wird er auch bei Bestandsanlagen zunehmend eingefordert – sowohl im Rahmen gesetzlicher Verpflichtungen als auch aus ökologischen und ökonomischen Erwägungen.
Ziel einer Gefährdungsbeurteilung ist es, die Notwendigkeit, Angemessenheit und Wirtschaftlichkeit eines hydraulischen Abgleichs in dauerhaft weiter betriebenen Bestandsliegenschaften systematisch zu bewerten. Die Beurteilung berücksichtigt i.d.R. den technischen Stand der Anlage und die Energieeffizienzpotenziale, die rechtlichen Anforderungen gemäß Gebäudeenergiegesetz (GEG) und angrenzenden Vorschriften, die kaufmännische Sinnhaftigkeit (Kosten-Nutzen-Verhältnis, Amortisation), die organisatorische Umsetzbarkeit im laufenden Betrieb sowie die Einhaltung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes.
Technische Bewertung
Grundlagen des hydraulischen Abgleichs
Ein hydraulischer Abgleich ist eine technische Maßnahme zur gleichmäßigen Verteilung der Heizwassermengen innerhalb eines Heizkreissystems. Ziel ist es, dass jede Heizfläche (Radiator oder Flächenheizung) nur die benötigte Wärmemenge erhält – nicht mehr und nicht weniger.
Kernbestandteile des Abgleichs gemäß DIN EN 12831-1
die raumweise Heizlastberechnung,
die Überprüfung und ggf. Optimierung der Heizflächen,
die Einstellung bzw. Auslegung der Regelung (Vorlauftemperatur, Pumpenleistung, Differenzdruckregelung).
Ohne hydraulischen Abgleich neigen Anlagen dazu, nahegelegene Heizflächen zu überversorgen (Überheizung) und entfernte zu unterversorgen (Kälteprobleme). Dies führt zu ineffizientem Energieeinsatz, unnötigem Nutzerverhalten (ständiges Thermostatnachstellen, Fensterlüftung) und Mehrverschleiß an Anlagenkomponenten.
Relevanz im Bestand
Gerade bei älteren Gebäuden besteht häufig kein dokumentierter Abgleich, oder er liegt Jahrzehnte zurück.
Nachträgliche Einregulierung im Facility Management
keine wesentlichen Einzelmaßnahmen zur Effizienzsteigerung (Pumpentausch, Dämmung, Heizflächenerneuerung etc.) bereits durchgeführt wurden,
die Nutzer*innen regelmäßig über Kälte- oder Hitzeprobleme klagen,
die Anlage außerhalb der Regelbetriebspunkte (z. B. hohe Rücklauftemperaturen bei Brennwerttechnik) betrieben wird,
auffällig hoher Verbrauch oder ineffiziente Betriebskennzahlen dokumentiert sind.
Fehlen diese Indikatoren, ist die technische Notwendigkeit im Einzelfall kritisch zu hinterfragen.
Relevante Gesetzesgrundlagen
Im GEG 2024 ist der hydraulische Abgleich in § 60c geregelt. Eine Verpflichtung besteht dort nur nach dem Einbau einer neuen Heizungsanlage in Gebäuden mit ≥ 6 Nutzungseinheiten oder bei selbstständigen Nutzungseinheiten im Nichtwohngebäude. Die Durchführung des Abgleichs muss nach einem exakt definierten Verfahren erfolgen und ist mit hohem planerischen Aufwand verbunden.
Bestandsanlagen unterliegen keiner generellen Abgleichspflicht. Es besteht lediglich gemäß § 60b GEG die Verpflichtung, eine Heizungsprüfung und -optimierung durchzuführen, z. B. bei alten Anlagen vor 2009 oder im Rahmen von Betreiberpflichten. Ein hydraulischer Abgleich ist dort „soweit erforderlich“ Teil dieser Optimierung – also nur bei technisch begründetem Bedarf.
Für Fälle wirtschaftlicher Unverhältnismäßigkeit sieht § 102 GEG explizit Ausnahmemöglichkeiten bei „unbilliger Härte“ vor.
Bedingungen für eine sinnvolle Einregulierung
sich Maßnahmen nicht innerhalb der Nutzungsdauer amortisieren,
das Verhältnis von Investition zu Einsparung nicht angemessen ist,
oder der Gebäudewert durch die Maßnahme nicht gesteigert wird.
Weitere normative Grundlagen
DIN EN 12831-1 / DIN/TS 12831-1: Heizlastberechnung
ZVSHK-Fachregel (Verfahren B): Umsetzung hydraulischer Abgleich im Bestand
VDI 2077: Verbrauchsabrechnung und gerechte Wärmeverteilung
VDI 3810 Blatt 2: Betreiberverantwortung technischer Anlagen
Obgleich diese Normen den „Stand der Technik“ definieren, entfalten sie keine gesetzliche Pflichtwirkung – außer, sie werden durch Gesetze oder Verträge explizit zur Anwendung erklärt.
Investitionskosten
Datenaufnahme und Berechnung der Heizlast pro Raum,
ggf. Einbau oder Austausch voreinstellbarer Ventile,
Ventileinstellung, Protokollierung, Justage.
Investitionskosten im Facility Management
Einfamilienhaus: 800 – 1.500 €
MFH / kleiner Gewerbebau: 3.000 – 10.000 €
größere gewerblich genutzte Objekte: >10.000 €, ggf. deutlich mehr.
Einsparpotenzial und Amortisation
5–15 % Heizenergieeinsparung, im Schnitt ca. 10 %
Bessere Anlagenwirkungsgrade, insbesondere bei Brennwerttechnik
Weniger Überhitzung → geringerer Lüftungsverlust
In Abrechnungspflicht (z. B. bei Mietern): gerechtere Kostenverteilung
Amortisationszeit im Facility Management
Daraus folgt: Bei Objekten mit stabiler Nutzungsperspektive und hohem Energieverbrauch kann sich der Abgleich rechnen. In wirtschaftlich „ausoptimierten“ Anlagen verschiebt sich das Gleichgewicht zugunsten der Wirtschaftlichkeit durch Monitoring und Wartung.
Organisatorische Bewertung
Zugänglichkeit: Alle Heizflächen müssen während des laufenden Betriebs erreichbar und abschaltbar sein.
Koordination: Notwendig sind Absprachen mit Nutzergruppen, ggf. temporäre Einschränkungen der Raumbeheizung.
Rückwirkung auf Prozesse: Besonders in Produktions- oder Bürogebäuden mit geregeltem Klima besteht die Gefahr von temporären Komfortverlusten.
Dokumentationspflichten: Bei Durchführung ist eine vollständige technische und rechnerische Dokumentation zu erstellen (§ 60c Abs. 4 GEG), inkl. Einstellwerten, Heizlasten, Regelparametern, Vorlauftemperatur usw.
Daher ist die Maßnahme nur bei sorgfältiger betriebsorganisatorischer Vorbereitung sinnvoll und umsetzbar.
Bewertung aus Sicht des Arbeits- und Gesundheitsschutzes
Nach dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) und der Arbeitsstättenverordnung (ArbStättV) ist der Arbeitgeber verpflichtet, ein gesundheitlich zuträgliches Raumklima zu gewährleisten.
Mindestwerte gemäß ASR A3.5
Ein unzureichend eingestelltes Heizsystem kann in Randbereichen zu Unterheizung führen. Dies stellt eine organisatorische Gefährdung dar. Ebenso können Überheizungen (>26 °C) den Komfort beeinträchtigen.
Ein hydraulischer Abgleich kann dazu beitragen, die Temperaturverteilung zu harmonisieren, ist aber nicht zwingend erforderlich, solange die Mindesttemperaturen eingehalten und die Raumklimabedingungen dauerhaft stabil bleiben. Punktuelle Nachjustierungen, organisatorische Maßnahmen oder temporäre Heizgeräte sind zulässig und können im Sinne einer Verhältnismäßigkeit bevorzugt werden.
Zusammenfassende Bewertung und Empfehlung
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sinnvoll bei dokumentierten Defiziten oder fehlender Regelbarkeit |
Pflicht nur bei Neuanlagen oder erforderlich im Rahmen von § 60b GEG |
sinnvoll, wenn sich Investition binnen <10 Jahren amortisiert |
nur bei verfügbarer Betriebsstruktur und interner Unterstützung |
kein Handlungszwang bei gesicherter Temperaturverteilung |
Empfehlung
Ein hydraulischer Abgleich in Bestandsliegenschaften sollte nicht pauschal, sondern nur nach dokumentierter technischer Analyse und unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten umgesetzt werden.
Empfohlene Maßnahmen im Facility Management
Durchführung einer Heizungsprüfung gemäß § 60b GEG, einschließlich einer visuellen und messtechnischen Bewertung der Wärmeverteilung.
Nur bei erkennbaren hydraulischen Ungleichgewichten: Empfehlung zur schrittweisen Umsetzung eines Teil- oder Komplettabgleichs.
Dokumentation der Entscheidung im Rahmen einer Gefährdungsbeurteilung.
Bei Zweifeln an der Wirtschaftlichkeit: Härtefallantrag gemäß § 102 GEG dokumentieren.